Vom Herzen her leben
Wir erleben eine Zeit tiefgreifender Veränderungen, mehr noch eine Zeitenwende.[1] Inmitten dieser Umbrüche sind Halt und Orientierung gefragt. Worauf können wir ein christliches Leben gründen? Ein tieferer Blick auf das menschliche Herz eröffnet frische Perspektiven. P. Andreas Kramarz LC schreibt über einen neuen Ansatz zur „ganzheitlichen Bildung“.
„Folge deinem Herzen!“ Das ist nicht nur der Titel einer Fernsehserie[2], sondern dieser Ausdruck findet sich auch in unzähligen Lebens- und Wellness-Ratgebern, vor allem in der Sparte „Achtsamkeit“, denen zufolge unser Herz besser weiß als unser Verstand, was wirklich gut für uns ist und wie wir uns selbst finden können. „Follow your feelings“ ist ein ähnlich berühmtes Motto im Star-Wars-Universum.
Ganzheitlich leben, das ist ein Ideal vieler Menschen heute, und oft meint man damit, sich von einer von Rationalität und Technologie dominierten Kultur zu lösen und stattdessen in die Tiefen des Irrationalen, des Spontanen und des unmittelbar Natürlichen zu versenken. Man hofft, darin den Weg in eine unbeschwerte Lebensqualität zu finden, den die starren Strukturen und Regeln traditioneller Institutionen, einschließlich der offiziell-organisierten Religionen oder Kirchen, zu versperren scheinen.
Was kann man zu diesen Trends aus katholischer Sicht sagen? Wir haben wahrscheinlich oft gehört, dass man seinen Gefühlen nicht trauen kann, weil sie so schnell kommen und gehen. Dass das Herz „überaus trügerisch,“ bösartig,“ und „unergründlich“ ist (vgl. Jer 17, 9f) und dass Liebe blind macht. Hat Christus nicht selbst gesagt, dass das, was von innen oder aus dem Herzen kommt, uns unrein macht (vgl. Mk 7, 14-23)?
Ein neues Herz
Daran stimmt allerdings nicht einmal die Hälfte. Das Problem liegt nicht in den Gefühlen oder im Herzen an sich, sondern darin, was im Herzen ist und geschieht. Der Katechismus der Katholischen Kirche enthält eine sehr schöne Nummer über das Herz (2563):
„Das Herz ist das Zuhause, in dem ich bin und in dem ich wohne (…). Es ist unsere verborgene Mitte, die weder unsere Vernunft noch andere Menschen erfassen können. Einzig der Geist Gottes kann es ergründen und erkennen. Im Innersten unseres Strebens ist das Herz Ort der Entscheidung (vgl. 368). (…) Es ist Ort der Begegnung, da wir nach dem Bilde Gottes in Beziehung leben. Das Herz ist der Ort des Bundes.“
Gott möchte uns ein neues Herz geben (vgl. Ez 36, 26f; CCC 1432). Wenn das Wort Gottes von einem „ehrlichen und guten Herzen“ aufgenommen wird, bringt es hundertfach Frucht (vgl. Lk 8, 8.15). Und es ist das Herz, worin der Heilige Geist die Liebe Gottes hineingießt (vgl. Röm 5, 5).
In der biblischen und sogar allgemein menschlichen Sprache ist das Herz keineswegs auf den emotionalen Bereich beschränkt. Maria bewegte das Geschehene in ihrem Herzen und dachte darüber nach (vgl. Lk 2, 19). Verstand, Wille, Gedächtnis, selbst die Tugenden und Laster sind mit dem Herzen verknüpft (wir sprechen von einem tapferen, klugen, gerechten, barmherzigen oder auch einem feigen, törichten, verkrampften, selbstsüchtigen usw. Herzen). In diesem Sinne ist das Herz nicht nur der tiefste Ort, wo wir ganz wir selbst sind und wo Gott im Gewissen zu uns spricht, sondern auch das Zentrum, in dem alle äußeren Eindrücke zusammenfließen und von dem alle unsere personalen inneren und äußeren Handlungen ausgehen.
Aus dem biblischen und patristischen Gebrauch können wir die Vorstellung von einem Herzen ableiten, das organisch mit allen anderen inneren Vorgängen verbunden ist und sie gewissermaßen koordiniert und, zumindest idealerweise, integriert.[3] Diese Vorstellung ist ganzheitlicher als jene Sichtweisen, die das Herz dem Verstand entgegensetzen, damit eine gewisse Aufspaltung der Person implizieren und die Integration der inneren menschlichen Akte innerhalb der menschlichen Seele nicht so recht verorten können.[4]
Es geht um den ganzen Menschen
Bevor wir die Rolle des Herzens im menschlichen Leben noch weiter entfalten können, ist es wichtig, einen genaueren Blick auf den Begriff der Ganzheitlichkeit zu werfen. Seit der Antike hat es immer wieder Ansätze gegeben, die Bildung des ganzen Menschen, als leib-seelische Einheit mit einer Vielzahl von unterscheidbaren inneren und äußeren Kräften (Fähigkeiten) und Organen, in den Blick zu nehmen, nicht zuletzt in den verschiedenen Strömungen der Reformpädagogik. Im katholischen Bereich kennt man in diesem Zusammenhang etwa Maria Montessori oder den Marchtaler Plan. Das 2. Vatikanische Konzil sieht für die Erziehung das Ziel, die „integrale Vollkommenheit der menschlichen Person zu fördern.“[5] Konkreter wird Johannes Paul II. in „Christifideles Laici“ (59-63), wo in der deutschen Version von einer „umfassenden Erziehung und Ausbildung auf die Einheit des Lebens hin“ die Rede ist und damit die Integrierung von Glaube, Leben und Gesellschaft in Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen meint. Für die Priesterausbildung fordert die katholische Kirche seit „Pastores dabo vobis“ (1992) Ganzheitlichkeit als die Verbindung der menschlichen, geistlichen, wissenschaftlich-intellektuellen und pastoral-apostolischen Dimensionen, ein Schema, das seither bisweilen auch für die ganzheitliche Bildung von Laien verwendet wird, nicht zuletzt auch im Regnum Christi.
Diese Einteilung, die letztlich aus der funktionalen Struktur von Priesterseminaren abgeleitet ist, befriedigt allerdings nicht so recht, sobald man „ganzheitlich“ genauer fasst und der verbreitete Fragmentierung des Menschen und des Bildungswesens bewusst entgegensteuert. Wäre es nicht zielführender, wenn man die Bildung des ganzen Menschen an den verschiedenen Beziehungen ausrichtet, die wir in unserem Leben eingehen (zu uns selbst, zu den Mitmenschen, zur natürlichen und zur kulturellen Umwelt und zu Gott, Beziehungen, die sich auch untereinander beeinflussen) und diese dann mit den Vorgängen im Inneren des Menschen abstimmt? Wie können wir das Potential im Menschen in allen inneren und äußeren Beziehungen bestmöglich entfalten?
Mehr als Ganzheitlichkeit: Liebe
In den vergangenen Jahren habe ich mich intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt. Dabei stieß ich auf eine weitere Spannung. Einerseits ist das antike Bildungsideal mit dem Christentum schon seit zwei Jahrtausenden sehr fruchtbar verschmolzen. Andererseits: Worin besteht das erste und höchste Gebot, das Christus uns hinterlassen hat? „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken und mit all deiner Kraft“ und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (vgl. Mt 22, 37; Lk 10, 27). Christus gebietet uns anscheinend nicht ganzheitliche Bildung oder vollkommene Selbstentfaltung, sondern Liebe. Wie passt das zusammen?
Dazu müssen wir recht verstehen, was Liebe ist. Vor zwei Jahren hat Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hier im L-Magazin bereits eine längere Betrachtung über die Liebe vorgestellt.[6] Darin bekräftigt sie, dass menschliche Liebe, biblisch verstanden, „das unerhörte, unvorstellbare schöpferische Füreinander und Miteinander des göttlichen Lebens ausdrückt“ und dass „Gott in sich selbst Liebe ist (1 Joh 4, 16).“ Die Autorin beschreibt Liebe als ein inneres „‚Spiel‘ von Geben und Empfangen (…), Bedürfen und Stillen, Lieben und Sich-Lieben-Lassen,“ und dies immer im Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt (oder Zweiheit).
Das alles gilt aber nicht nur für die Ehe, sondern in verschiedenen Ausfaltungen für alle personalen Beziehungen. Liebe gründet immer zunächst auf der Begegnung mit jemand oder etwas Liebenswertem, das für gewöhnlich Schönheit ausstrahlt und uns deshalb anzieht und erfreut, wenn wir es bestaunen und betrachten. Es stellt damit für uns auch etwas Gutes dar, das wir bejahen und wollen. Dies steigert sich weiterhin in dem Grad, in dem das Schöne und Gute auch innerlich geeint ist und der Wahrheit entspricht (siehe Papst Benedikts wichtige Enzyklika „Caritas in Veritate“). Schönheit-Gutheit-Wahrheit-Einheit, diese Grundbausteine der Wirklichkeit (auch Transzendentalien genannt) bestimmen letztlich auch die Vollkommenheit der Liebe: je weniger eins oder mehrere dieser Bausteine im Geliebten oder im Liebenden gegenwärtig sind, desto weniger kann die Liebe zur Erfüllung gelangen.
„Niemand hat größere Liebe …“
Da wir das hier nicht im Einzelnen aufzeigen können, muss ein Beispiel genügen. Traditionell wird zwischen Liebe aus Verlangen („amor concupiscentiae“) und bedingungsloser Liebe („amor amicitiae“) unterschieden. Wenn ich einen Nachbarn liebe, weil er immer so freundlich ist, dann ist meine Liebe gewissermaßen davon abhängig, dass er meinen Erwartungen von Freundlichkeit entspricht. Einen Freund hingegen liebe ich zwar oft auch zunächst wegen gewisser Gemeinsamkeiten, aber jemand ist erst dann ein „wahrer Freund“, wenn ich ihn letztlich dann einfach deshalb liebe, weil er mein Freund ist, „durch Dick und Dünn“, wie man so sagt. Christus drückt es so aus: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15, 13). Und das „Organ“, mit dem wir lieben, ist das Herz, denn die Liebe durchwogt die ganze Person. Daher verehren wir mit dem Herzen Jesu vor allem den „Ort“ seiner Liebe.[7]
Je höher die Liebe, desto mehr ist vom Liebenden gefordert: er muss mehr von den Transzendentalien in sich realisiert haben und hängt doch immer weniger davon ab, wie viel der, die oder das Geliebte selbst sie schon realisiert hat. So ist Gottes Liebe: Gott ist perfekt in allem und doch liebt er die Sünder und die Kranken, aber weil er sie liebt, führt er sie – uns! – selbst durch seine Liebe höher: zu Umkehr und Heilung, und letztlich zur Heiligkeit. Im Himmel gibt es in und unter uns dann nichts Hässliches, Böses, Falsches oder Gespaltenes mehr.
Eine neue Perspektive
Und damit sind wir wieder bei der Bildung gelandet. Unser Gedankengang legt nun allerdings einen neuen Ansatz nahe. Denn anders als die meisten modernen Modelle mit dem Hauptziel der Selbstperfektion sollte genuin christliche Bildung sich auf die Befähigung zum bedingungslosen Lieben nach dem Vorbild Christi ausrichten. Das oben zitierte Liebesgebot enthält bereits den Aufruf zur Ganzheitlichkeit, denn wir sollen Gott mit unserer ganzen Person lieben. Und wir sind in dem Maß „ganz“ wie wir in uns die innere organische Einheit (die Übereinstimmung zwischen Leib und Seele, außen und innen, usw.) fördern, unseren Geist an der Wahrheit ausrichten, das Gute und Schöne erstreben und all unsere Beziehungen entsprechend gestalten. Wir können Gott, den wir nicht sehen, aber nicht lieben, wenn wir nicht einander lieben (vgl. 1 Joh 4, 20), denn die Art und Weise, wie wir einander behandeln, gilt vor Gott als ihm getan (vgl. Mt 25, 40).
Christliche Herzensbildung
Wenn nun das Herz das integrale Zentrum des Menschen ist, dann darf man „Herzensbildung“ nicht nur auf das Trainieren emotionaler Intelligenz reduzieren, sondern das Herz ganzheitlich auf die Liebe hin einzustimmen, die Christus uns lehrt. Und das umfasst die ganze Person in ihrem Inneren und ihren Umgang mit der Außenwelt. Damit sind nicht nur der Ansatzpunkt und die Stoßrichtung umgekehrt (es geht vorranging darum, lieben zu lernen, und erst deshalb um Ganzheitlichkeit), sondern die Ganzheitlichkeit selbst wird in ihrem Vollsinn verwirklicht, da sie sich auf die Prinzipien von Einheit, Wahrheit, Gutheit und Schönheit in ihrer wechselseitigen Verwirklichung stützt.
Dies konkret in den verschiedenen Bildungsbereichen umzusetzen wird die Herausforderung für die katholische Bildungsarbeit der Zukunft sein, denn die Zukunft der Kirche liegt darin, neu von Herzen lieben zu lernen und dies in die kalte neuheidnische Welt auszustrahlen.
Zur Person
Dr. Andreas Kramarz LC
1992/93 Diplom in kath. Theologie, 2. Staatsexamen für Höhere Lehrämter in Germanistik und Religion (Westfälische Wilhelms-Universität, Münster)
1994 Eintritt bei den Legionären Christi (Roetgen bei Aachen)
1999 Lizenz in Philosophie (Atheneaum Pontificium Regina Apostolorum, Rom)
Seit 1999 Dozent für humanistische Studien am Legion of Christ College of Humanities, Cheshire, CT (USA)
2003 Priesterweihe in Rom
2009-2019 Studiendekan am Legion of Christ College of Humanities, Cheshire, CT (USA)
2013 Promotion in Altphilologie (University of Florida, Gainesville, USA)
2021-2023 Gastwissenschaftler am „McGrath Institute for Church Life“ (University of Notre Dame, USA)
Forschungsschwerpunkte: historische und modern Musikpsychologie; philosophische und theologische Anthropologie; Ganzheitliche Bildung.
Für Näheres zum Lebenslauf (auf Englisch), siehe hier.
Andreas arbeitet derzeit an der Veröffentlichung eines Buches zu diesem wichtigen Thema. Haben Sie Interesse? Wollen Sie P. Andreas schreiben? Sie können dem Autor unter folgender E-Mail-Adresse kontaktieren. Vorbestellungen für das Buch werden ebenfalls gerne entgegengenommen.
[1] Vgl. Brief von Papst Franziskus an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, 29. Juni 2009.
[2] Gleichnamige Serie im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF-TV-Premiere 2009).
[3] Siehe z.B. Johannes Botterweck, Helmer Ringgren, Heinz-Josef Fabry, Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart 1973; Gerhard Kittel, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933; Anton Maxsein, Philosophia Cordis: Das Wesen der Personalität bei Augustinus. Salzburg 1966.
[4] Siehe etwa das ansonsten wichtige und wegweisende Buches „Über das Herz: zur menschlichen und gottmenschlichen Affektivität“ von Dietrich von Hildebrand, Regensburg 1967.
[5] Gravissimum Educationis 3; so wörtlich vom lateinischen Urtext; die offizielle deutsche Version lässt den Ausdruck „integral“ unübersetzt: „zur Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit,“ vgl. siehe hier.
[6] Siehe hier.
[7] Vgl. Joseph Kardinal Ratzinger/Benedikt XVI., Schauen auf den Durchbohrten: Versuch einer spirituellen Christologie. Einsiedeln, 2007, 3. Auflage.